Gxtra-Weilarge beS „Boten für Tirol und Vorarlberg' Nr. Ä»R Nichtamtlicher Theil. Nach den deutschen Nelchstagswahlen. Wenn der deutsche Reichstag ein starkes Band der deutschen Einheit sein soll, so spielt er seine Rolle mit jeder neuen Wahl immer schlechter. Nach seiner neuesten Zusammensetzung bilden nun die centrifn» galen Kräfte die Mehrheit, nachdem dieselben schon früher eine stets mehr und mehr anwachsende Mino rität repräsentirt hatten. Diejenigen, welche so viele Jahre hindurch
unermüdlich auch unter den nngün- stigsten Aussichten an der Verwirklichung des Traumes von der „deutschen Einheit' gearbeitet haben, d. h. die sogenannten Nationalliberalen, sind jetzt im ReichötagSfaal in ^ erlin auf'o schönste in einen Win kel gedrängt und können von dort ans zusehen, wie die offenen und versteckten „Reichsfeinde' das neue deutsche Reich kurireu. So wird der jüngstgewählte deutsche Reichstag Wohl der letzte sein, der in Berlin zusammentritt, und seine Verhandlungen können höch stens
nur die Aufmerksamkeit der linksrheinischen Nach barn des „deutschen Reiches' auf sich ziehen, die allerdings mit einiger Spannung die interessante Ent wicklung des deutschen EinheitSprojecteS verfolgen wer den. Man hört noch wiederholt die Behauptung aus- sprechen, der deutsche Reichskanzler sei einer der größ ten Staatsmänner der Neuzeit; wenn aber sein Ruhn» durch nichts Anderes begründet wäre, als durch die Schöpfung und das Wirken dieses deutschen Reichs tags, so stünde er in der That aus schwachen Füßen
. Die Einführung des allgemeinen Stimmrechts für eiu so unterwühlte» Reich, wie Deutschland, zeugt eben nicht vou einer außerordentlichen staatsmännischen Weisheit, falls man nicht annehmen will, daß der Urheber des allgemeinen StimmrechtS gerade dadurch die Idee einer einheitlichen deutschen Volksvertretung ack g-dsuräuiu führen wollte. Diesem herrlichen Wahl gesetze verdankt nun z. B das „hochgebildete'^DreSden, daß eS im deutschen Reichstag durch einen social demokratischen Drechslermeister vertreten
ist; ein anderes „deutsches Athen,' nämlich das an der Jsar, sendet infolgedessen einen Pfarrer, der gern auf Reisen geht, und einen MagistratSbeauiten nach Berlin in'S deutsche Parlament. Es scheint, daß die gnten Münchner Wähler den deutschen Reichstag für eine' Art Gemeindeausschuß von München halten, in wel' chem hauptsächlich Localangelegenheiten verhandelt werden, wie z. E. die Wasserversorgungsfrage von München, die Beflaggung der Kirchthürme zu München zur Sedanfeier u. dgl. Diesem unvergleichlichen Wahlgesetz