Märchen und Sagen aus Wälschtirol : ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde
nahe war ein Brunnen, daran stund ein Weib und zog den schweren Wassereimer mi t ihren Haarflechten aus der Tiefe herauf. Hurtig gab ihr das Mädchen das Seil. Nun war das Mädchen an der Stiege. Vorsichtig und leise ging es hinauf und kam in ein grosses Gemach; da sass eine Alte halb wach und halb schlafend und spann. Auf einem Kasten aber lagen in goldenem Teller die drei Pomeranzen. Rasch ergriff sie das Mädchen und eilte hinweg ; allein die Alte hatte es doch gemerkt und humpelte
ihr nach. Als das Mädchen am Brunnen war, rief die Alte dem Weibe, welches dort Wasser schöpfte, zu: „Halt sie auf, sie hat mir die drei Pomeranzen gestohlen!' Aber das Weib sagte: „Das thu ich nicht, seit so vielen Jahren zog ich den Wassereimer mit meinen Haar flechten herauf und nun hat mir das gute Kind ein Seil gegeben. Als das Mädchen zum Weibe kam, welches den Hof kehrte, rief die Alte wieder: „Schlag' sie zu Boden, sie hat mir die drei Pomeranzen gestohlen !' Allem das Weib sagte: „Das thu 1 ich nicht; seit
so viel Jahren kehrte ich den Hof mit meinem Kleide und nun hat mir das gute Kind einen Besen gegeben.' Das Mädchen war schon bei den Hunden, da schrie die Alte zornig: „Packt sie, Hunde, zerreisset sie, sie hat mir die drei Pomeranzen gestohlen!' Allein die Hunde bellten nicht einmal, sondern sagten: „Das thunwir nicht; seit so viel Jahren haben wir Hunger gelitten und nun hat uns das gute Kind Brot ge geben.' Schon war das Mädchen am Thore, da schrie die Alte noch stärker: „Schliess 1 dich, Thor
, zerquetsche sie, sie hat mir die drei Pomeranzen gestohlen!' Aber das Thor rührte sich nicht, sondern sagte: „Das thu' ich nicht; seit so viel Jahren war ich rostig und nun hat mich das gute Kind mit Oel bestrichen.' Eben trat das Madchen auf die Brücke, da schrie die Alte noch einmal im höchsten Grimme: „Palle, Brücke, wirf sie hinab, sie hat mir die drei Pomeranzen ge stohlen!' Die Brücke aber schwankte nicht einmal, sondern sagte: „Das thu' ich nicht; seit so viel Jahren war ich zerbrochen
und nun hat mich das gute Kind wieder gemacht!' ' Nun konnte die Alte nicht mehr weiter und das Madchen war gerettet. Es dankte Gott und sezte freudig seinen Weg fort, bis es wieder zu den Feen kam. Diese waren nicht wenig erstaunt, das Mädchen wieder zu sehen, noch erfreuter waren sie, als es ihnen die drei Pomeranzen überreichte. Nachdem es ihnen alles erzählt hatte, lobten sie es und fragten, was für eine Belohnung es wolle. Das Mäd chen verlangte nichts anderes als zu seiner Mutter zurückkehren zu