Seite 6 Sonntag, den 84. März. Zill Nile m Belllltes. Von V. Meindl. Venedig. (ll) Die griechische Mythologie erzählt, daß Kro- nos seinen Vater Uranos vom Thron gestürzt und freventlich verstümmelt habe. Hierauf warf er ein abgeschnittenes Stück seines Körpers ins Meer und nach langer Zeit stieg aus dem auf gärenden Schaume ein wunderbares Gebilde hervor, Aphrodite, die schönste der Göttinnen, oder Venus, wie sie bei den Römern genannt Wird. Die Hören des Frühlings eilten, nachdem
sie die Insel Kypros betreten hatte, herbei, mn sie mit reizenden golddurchwirkten Kleidern zu Seiden, ihr Haupt zu bekränzen und sie mit Blu men zu schmücken. Auch Venedig erhob sich gleich dieser Göt tin aus dem Schaume des Meeres und ganz außergewöhnlich glückliche Umstände verliehen Km einen Glanz und eine Fülle von Macht, wie sie wohl keiner anderen Stadt beschieden war. Das erkennt man heute auf den ersten Blick, wenn man vom Bahnhof auf dem Eanal gran- de gegen das Herz der Stadt, den berühmten
durch besondere Schönheit aus. das Gestein der Wände ist verwittert, schmutziqqrau, Sprünge zeigen sich an den Wänden, manche Ecke ist ab gebröckelt. Die Fenster aber sind gar oft mkt einfachen Bretten, aus rohem, nicht einmal angestrichene Holz verdeckt So Höst diese Stadt einen Dornröschenschlaf, aus dem sie aber nie wieder zm- früheren Große und Schönheit erwachen wird „Es scheint eni banges, ew'ges Ach zu wohnen In diesen Lüften, die sich leise regen, . . . Venedig fiel, wiewohl'«; getrotzt Aeonen
. Das Rad des Glücks kann nichts zurückbswe- gen.' i Waten.) Wehm-.!! erfüllt das Herz des Beschauers, besonders, wenn, er diesen fortschreitenden Vor. fall zum erstenmals sieht, und es dauert gerau me Zeit, oft sogar mehrere Tage, bis man sich mit diesen traurigen Zustande abfindet und die Ueberreste der alten Herrlichkeit so genießt, wie man sie genießen soll. So ist es auch be greiflich. wenn Platen weiter sagt: „Venedig liegt im Land der Träume'. Man glaubt tat sächlich zu träumen, wenn man in Äese
vor findet, wie man sie sonst wohl nur w den südli chen Teilen Italiens zu sehen pflegt. So war Venedig wohl einstmals eine Göt tin, jetzt aber möchten wir sie lieber mit einer alten Königin vergleichen, die es trotz ihres runzeligen Antlitzes und trotz ihres morsche» Leibes liebt, sich mit dem einst prächtigen, setzt aber abgeschossenen, verbleichenden mü» zerfa serten Krönungsmantel und dem Diadem zu zieren, das sie einst in herrlicher Jugendzeit ge tragen. Diesen tiefen Verfall, welchen die Stadt