8oo LUCERÀ Nur wenige Stunden Wegs trennen den Hohenstaufen vom Hohenzollern, aber die Geschichte des Deutschen Reichs brauchte sechs volle Jahrhunderte, um diese Strecke zurückzulegen. Im Jahre 1870 langte sie dort an. Da stand das Deutsche Reich in der Dynastie der Hohenzollern neu gegründet, und die Fortsetzung der Mission der Hohenstaufen wurde auf jene übertragen. Derselbe Kampf, welchen die Schwabenkaiser mit Rom gekämpft haben, ist alsbald mit gleicher Leidenschaft wieder entbrannt
, so doch sicher lich auf Grund der ihr seit Karl dem Großen und den Ottonen für lange Jahrhunderte zugeteilten Reichs gewalt, wodurch das deutsche Volk eben so lange in Kampf mit der Papstgewalt und dem römischen Chri stentum geraten mußte. Die Strömung der Geister in Europa scheint einen ewigen Kreislauf zu beschreiben, innerhalb dessen Reich und Kirche, Kaiser und Papst, noch immer den selben Standpunkt halten, wie zur Zeit Friedrichs II. und Gregors IX. In Wahrheit, es liegen in unserer Kultur alte
, und Deutschland, kaum zu einem nationalen Reich erstanden, ist wiederum gespalten in die Parteien der Guelfen und Ghibellinen, in Anhän ger des Reiches und der Kirche. Diese Tatsache er scheint erstaunlich, doch sie befremdet nur denjeni gen , welcher die Zusammenhänge des geschichtlichen Prozesses nicht kennt. Die beklagenswerte Renaissan ce dieses Streites erschwert die ruhige Ordnung des deutschen Nationalreiches, welches offene oder mas kierte Feinde umlauern, aber sie ist eine geschichtli che
Notwendigkeit. Vielleicht wird es Deutschland nicht beschieden sein, ein friedliches nationales Glück auf lange zu erreichen, wie es England nach dem Ab schlüsse seiner Revolutionen darzustellen vermocht hat. Denn die deutsche Nation ist durch das reforma torische Prinzip dazu berufen, die Gegensätze auszu tragen , auf welchen die Entwicklung des innern Le bens Europas beruht. Dieses Prinzip hat bei ihr seinen Sitz und Mittelpunkt genommen, wenn nicht gerade zu auf Grund ihrer geistigen Eigenart