Seite 6. Nr. 29. Wie sollte denn ein so zauberschönes, engelweißes Geschöpf ihn, den schwarzen Esau, lieben? Gütig genug war das Hannele, ihn aus Mitleid zu hei raten, aber später würde es dann bittere Reue empfirrden. Nein, da mußte er der Gescheidtere sein, er durfte das Opfer nicht annehmen. So strubelte der Leopold auf dem Wege nach Gnaden zell. Als er ins Dorf hinunterkam, schlug die Turmuhr zehn, und aus der Kirche ertönten sanfte Orgelklänge, ein Zeichen, daß der Schulmei ster
zu. Auf dem, Kirchplatze trat der Leopold zu ihm heran und sagte, daß er komme, Abschied zu neh men. Der Schulmeister war auf's höchste überascht und führte ihn ins Haus. Nachdem auch die Schul meisters frau erschienen war, erzählte der Bursche kurz und ohne Bitterkeit, was er deksganzen Abend hindurch erlebt hatte. Er sprach ganz ruhig, nur wenn er auf das Hannes zu rüden kam, lvurde er eifrig, heiße Liebe und schwere Angst klang aus seiner Stimme. Er schilderte den Lehrersleuten, wie das Mädchen so verlassen
und hilflos sei und gar keinen Menschen mehr habe, dann bat er in ständig, sie möchten dem Hannele mit Rat und Tat beiftehen, daß den: armen Waise! nichts Ueüles wi derfahre. Der Lehrer schaute den Burschen eine Zeit lang und durchdringend an. Nach einer Weile sagte er: „Leopold, ich sehe dir zutiefst ins Herz hinein und weiß alles, obwohl du nicht alles gesagt hast. Brauchst nicht rot zu werden, deine Seele ist rein und klar bis auf den Grund, und du bist immer noch derselbe edelmütige Junge wie früher
dich verlassen .... Heute tust bei uns übernachten, mor gen früh, bevor es Tag wird, kannst deine Reise antreten. Ich gib dir einen Empfehlungsbrief an meinen Kollegen, den alten Lehrer von Breiten bach mit, der dir gewiß einen guten Platz verschaf fen wird. In Breitenbach bist sechs Stunden von der Heimat, also nicht zu nah, und nicht zu fern. — Den Kopf hoch und mutig in die Zukunft ge blickt." Die Lehrersfrau brachte noch einen Imbiß. Wäh rend Leopold aß, schielte der Lehrer immerfort auf das rote Heft
in der Bücherstelle. Mit einem Male nahm er es herunter, setzte sich an das Harmonium, spielte eine leise'Begleitung und sang: „Sei nicht traurig, sei nicht traurig, Es ist nur heute so trübe, es ist nur heute so schwer; Morgen lacht die Sonne wieder, Leuchten RosenAweiß und rot, Und frohlaute Lerchenlieder Jubeln in den hellen Morgen, Jubeln in den blauen Himmel, Siegreich über Leid und Tod." Am andern Tage, kurz nach dem Frühläuten, wan-derte Leopold schon durch das Tal hinunter. An diesem Morgen