¬Die¬ lyrische Dichtkunst in ihrer vollständigen Entwicklung
Von dem Geiste der Lyrik in den verschiedenen Zeitaltern. 71 materielles, so wie sein Ringen und Streben. Was dem Stolze fröhnte, was die Habsucht nährte, was die Sinnlichkeit reizte, dieß war der Heros, dessen Lob und Preis den Saiten der Leier entströmte; dieß der Feuerheerd, an dem sich die Gefühle des heidnischen Lyrikers zur Begeisterung entstammten; dieß der be lebende Geist, der durch die Gesänge à götteranbetenden Ly rik wehte. Es läßt sich aber doch keineswegs läugnen
, daß auch der Heide zuweilen Tugenden mit Enthusiasmus pries, und Laster mit scharfen Geißeln züchtigte, da in ihm menschliche Natur und menschliches Gefühl denn doch nicht ganz erstorben waren; nur konnten diese Tugenden keine echt moralischen genannt werden, weil ihnen das wahre, moralische Prinzip und Motiv abging; man konnte sie natürliche, häusliche, Staatstugenden nennen, und somit war der Geist der Lyrik im Heidenthume immer ein heidnischer, irdischer, sinnlicher; aber jedesmal in seiner Art edel, groß
, erhaben und glänzend. Zur Bestätigung dessen bedarf es keiner Belege, da uns jeder Jon der lyrischen Gesänge des Hei denthums den Vollgültigsten und unwiderleglichsten Beweis liefert. Diese Wahrheit schließt eine andere in sich; nämlich diese, daß es eine heilige Pflicht der Schule ist, bei der Erklärung der antiken Poesie überhaupt und der Lyrik insbesondere die jungen Freunde der Muse auf diesen Geist und auf diese Richtung der selben im Heidenthume aufmerksam zu machen, damit sie, wäh rend
die Kunst gerühmt, und deren Studium empfohlen wird, nicht such mit der Kunst deren Geist und Richtung in sich auf nehmen, eine einseitige und schiefe Bildung erhalten, und, an statt zu gewinnen, unendlich verlieren. Ganz anders gestalteten sich die Dinge durch die Einführung des Christenthums. Kaum hatte die himmlische Religion auf den Trümmer» der Götzentempel ihre heiligen Altare aufgerich tet; kaum entstrahlte das Siegeszeichen der Menschenerlösung von