Dichter, Kaiser und Papst : Walther von der Vogelweide als politischer Dichter
. Die deutsche Geschichte ist an solchen Epochen, in denen die Poesie gestaltend auf die politischen Ereignisse einwirkte, reicher, als die manches anderen Volkes, und zu den interessantesten Periode» jener Art zählt wol die Zweite Hälfte des zwölften und die erste Hälfte des dreizehn ten Jahrhunderts — das Zeitalter der Hohenstaufen — jene Epoche, in der Deutschland seine größten Kaiser und Rom seine begabtesten Päpste hatte, das Reich — ähnlich wie in unseren Tagen — um seine Unab hängigkeit
von kirchlicher Bevormundung kämpfte und Rom für seinen weltbeherrschenden, Könige und Volker niedertretenden Einfluß stritt. Barbarossa hatte Deutschland groß und mächtig gemacht; sein kaiserlicher Sohn Heinrich war nahe daran, die selbstsüchtigen weltlichen und geistlichen Fürsten unschädlich zu machen und die römische Hierarchie in die ihr gebührenden Schranken zu weisen. Da wollte es das Unglück, daß Heinrich VI. in's Grab stieg, bevor er sein Werk ganz vollführt hatte. Eine zwiespältige Kaiserwahl trat
ein, die Fürsten schwankten Zwischen dem Staufer Philipp und dem Welsen Otto, und der herrsch- süchtige Papst Änuocenz III. benützte die Verwirrung, um Deutschland zu schwächen und Rom zu stärken: er erklärte, dass der Papst die Kaiserkrone vom Morgenlande auf das Abendland übertragen und er daher das Recht habe der Berschenkuug der Kaiserkrone. In diesen Tagen lebte ein deutscher Dichter Namens Walther von der Vogelweide, so freisinnig, so vorurteilsfrei, so erfüllt von den heiligsten Gefühlen für Wahrheit