. Eine Mondnacht wie diese war es gewesen, da zog er wie ein flüchtiges Wild an demselben Kreuze vorüber, das Kainszeichen aus der Stirne. Wie er dazu gekommen war? Er wußte es selbst kaum zu sagen. Sie waren ja so glücklich zusammen gewesen, er und sein Weib und sein kleines Mädchen. Das kleine Haus am Ende des Dorfes gehörte ihm, das hatte sein Großvater mit eignen Händen gebaut, und er, Barthel Weber, sein Enkel, hatte wacker geschafft und gespart, das kleine Gütchen zu erhalten und zu vergrößern. Gut
seine Lieben zum letztenmal ge sehen habe! Einen scheuen Blick warf er zum Kreuz empor; mit furchtbarer Anklage sah das Christusbild zu ihm hernieder. Er konnte seinen Anblick nicht ertragen. „Fort, nur fort!" ries es in ihm. Schnell war er der Stelle enteilt, hatte sich in den dichten Wald geschlagen und war verschwunden auf Nimmerwiederkehr. Jahre gingen dahin, aber Barthel Weber blieb ver schollen. Er war nach Tirol und dann nach der Schweiz geflohen, in ein stilles, weltentferntes Tal, wo ihn nie mand
kannte. Der einst so brave, rechtliche Mann hatte sich einer Bande Wildschützen angeschlossen, an deren Spitze er sein Unwesen weiter trieb. Länger als zehn Jahre hatte Barthel Weber in fernem, fremdem Lande ein wildes, verwegenes Leben geführt, als ein Umstand eintrat, der ihn wieder in die Heimat fiihrte. Die unter seiner Leitung stehende Bande wurde nach langem Fahnden der Forstbeamten entdeckt und mit Hilfe einer kleinen Abteilung berittener Gendarmen einge- sangen und dingfest gemacht, dlm
ihr Führer, Barthel Weber, entkam. Gepeinigt von der Furcht einer noch möglichen Ent deckung, gemartert von der unauslöschlichen Sehnsucht nach seinen Lieben, gefoltert von den Vorwürfen seines nie schlafenden Gewissens, schlich er wochenlang durch die Schluchten und Gründe des Gebirges; am Tage sich ver bergend, die Menschen fliehend, kam er der Heimat näher. Er hatte nur einen Gedanken: Weib und Kind noch einmal zu sehen, dann wollte er in einem anderen Lande sein wildes Leben weitersühren, bis der Tod
saß und kämpfte, er wußte es nicht. Als endlich die Sonne aufging und ihr helles funkelndes Gold im Schnee glitzerte, hatte Barthel Weber ausgekämpft. Als die Weihnachtsmorgenglocken erklangen, stieg er von der Kreuzeshöhe herab. Aber wenn er fiirchtete, er kannt zu werden, so war diese Besorgnis unbegründet, denn vier Monate nach seiner Flucht war aus dem Bodensee die unkenntliche Leiche eines Mannes gezogen worden, die die Leute seines Ortes als die ihres vormaligen Mitbewohners Barthel Weber