wieder vergessen, sondern überhaupt niemals erlernt. Mein niusikalischer Sinn und Verstand — denn ich behaupte trotzdem im Vollbesitze dieser Requisiten zu sein — ist also von keinerlei schulmäßiger Dressur, Halbbildung oder Verbildung angekränkelt. Ob in solch' bar barischem Rohzustande von musikalischem Sin» und Verstand überhaupt die Rede sein kann? Oh, bitte sehr! Wenn unter meinen Fenstern ein flotter Marsch geblasen wird, so sängt mein Echreibstuhl unter mir zu courbettiren an, und wenn ein Zigeuner
, die mich seelisch anregt, gleichgiltig, ob sie von Verdi oder Sebastian Bach, von Meyerbeer oder Johann Strauß geschrieben ist. Sollte nach dieser nicht etwa von eitler Selbstgefälligkeit, sondern vielmehr von purer Gewissenhaftigkeit dictirten Ein leitung noch Jemand an meinem Berufe zweifeln, über den musikalischen Sinn der Großstädter ein maßgebliches Urtheil zu fällen, so würde mir eiue solche Befangenheit mehr für den Betreffenden, als für mich selbst leid thun. Ei» sehr be deutender und erfahrener
! Nach dem bekannten Sprüchworte: „Uebung macht den Meister' sollte man glauben, daß der musikalische Sinn der Großstädter außerordentlich entwickelt selu müßte. Ich weiß nicht, inwieweit die Redensart, daß der Zigeuner mit seiner Fiedel zur Welt koinme, durch Thatsachen gerechtfertigt ist; aber das weiß ich bestimmt, daß mir selten ein großstädtisches Kind ohne Clavier in's Erdenleben eintritt. Vater, Mutter, Schwestern, Brüder, Nachbarn, oben und unten, zur Rechten und zur Linken, spielen ihm das Wiegenlied
. Für den „Selbstunterricht' haben wir die Herophone, Aristophone und Clarophone, welche den verschiedensten Geschmacksrichtungen bei höchst bescheidenen Ansprüchen an Talent und Fleiß in ausgedehntestem Maße gerecht werden, und als „Fortbildungsschule' dienen die Garten- und sonstigen Concerte und Theater. Trotz alledem steht aber der musikalische Sinn »nd Ver stand der Großstädter auf einer sehr niedrigen Stufe, oder richtiger gesagt, er ist sogar sichtlich in, Verfall begriffen. Bon all den zahllosen Kunstjüngern
der Musik. Es ist geradezu unbegreiflich, daß im Zeitalter deS Rechtsstaates und der Nervosität die Kla vierpest, welche eigentlich nichts anderes ist, als ein mit schwerer körperlicher Mißhandlung complicirter chronischer Hausfriedensbruch, zu solcher Ausdehnung gelangen konnte, nnd es gibt nur eine einzige plausible Erklärung für diese merkwürdige Thatsache: den geringen musikalischen Sinn und Verstand der großstädtischen Bevölkerung, welche dieses social« Uebel gezeugt und großgezogen hat. Weit